F.U.T.U.R.E.

Dec 09, 2020

«Sucher_102, gerade bricht der hundertvierundzwanzigste Tag deiner Post-Mission an. Vitale Funktionen unverändert. Schiff intakt.»

«Danke, Al-Isha», murmelte Sucher_102 in Gedanken versunken. Tage hatten für ihn schon vor langer Zeit an Bedeutung verloren. In der Weite des Universums wechselten sich pechschwarze Dunkelheit mit der explosiven Helle von Sternen und dem fluoreszierenden Schimmer von unbewohnten Planeten ab. Er selbst war nur ein Staubkorn, das dahindriftete. Sein Lichtgeschwindigkeits-Booster war vor ein paar Monaten ausgefallen, seither kam er nur noch schleppend voran.

Er stand von seiner bescheidenen Pritsche auf und streckte sich. Er mochte es, hier zu liegen, die Augen zu schliessen und von Al-Isha in eine fremde, neue Welt getragen zu werden, die sie ihm in den schönsten Worten beschrieb. Irgendwo in der Unendlichkeit des Kosmos wartete ein Planet auf ihn. Sein neues Zuhause. Das Zuhause einer neuen Ära von Menschen. Dreihundert Sucher waren vor etwas mehr als drei Jahren ausgeschickt worden, um einen bewohnbaren Planeten zu suchen. Damals war es schlecht bestellt gewesen um die Erde. Gier hatte die Menschen dazu getrieben, die Ressourcen auszuschöpfen, das Klima zu zerstören, andere Spezies zu verdrängen und sich so ihr eigenes Grab zu schaufeln. Neue Technologien, von künstlichen Intelligenzen entwickelt, verlangsamten den Alterungsprozess und führten schliesslich zu praktisch unendlichem Leben. Dies aber spaltete die Gesellschaft in solche, die sich ein ewiges Leben leisten konnten, und solche, die dafür arbeiten mussten, es den Unsterblichen so angenehm wie möglich zu machen und schliesslich in Armut starben. Es gab Kriege. Blutige Aufstände. Wasserknappheit. Temperaturschwankungen und Naturkatastrophen. Der Mensch schaffte es trotz allem nicht, sein Glück zu steigern. Und als es so aussah, als würde die Erde bald ihre letzten Atemzüge machen, wählte man dreihundert Neugeborene aus, die man von Geburt an auf ihre Mission vorbereitete. Sie wurden in Isolation gehalten, ihr Weinen und Quengeln wurde nur von der Stimme von Al-Isha besänftigt. Es wurden Experimente durchgeführt und schliesslich wurden die Sucher zum neuen Menschen, zum Homo Deus. Einer mit minimalen Emotionen, ohne Schlaf- und Hungerbedürfnis. Perfekt ausgestattet, um in einer kleinen Kapsel durch das Universum zu reisen und zu suchen.

Und so suchten sie. Sie suchten in allen Ecken des Universums und fanden schliesslich eine neue Welt. Eine Welt voller verborgener Bodenschätze, Nahrung, Schutz und freundlichen Tieren. Die künstlichen Intelligenzen erlaubten es nur den Empathen, das Raumschiff zu besteigen. Nur ihnen wurde es erspart, gemeinsam mit der Erde zu sterben. Es hiess, dass diese Menschen den Frieden möglich machen würden. Dass der neue Planet endlich ein harmonisches Zusammenleben möglich machen würde. Dass die Kämpfe und Gräueltaten, die auf der Erde geschehen waren, mit ihr untergehen würden.

So wurde es Sucher_102 erzählt. Seit hundertvierundzwanzig Tagen liess er sich von Al-Isha in Richtung seiner neuen Heimat treiben. Wäre sein Lichtgeschwindigkeits-Booster nicht ausgefallen, wäre er schon längst dort gewesen. Er konnte es kaum erwarten, seine Füsse auf unerforschten Boden zu stellen. Al-Isha erzählte ihm vom Rauschen der Meere, von wilder Vegetation, von Harmonie und Frieden.

Sucher_102 setzte sich ins Cockpit und schaute in das Nichts des Universums hinaus.

«Wie lange noch, Al-Isha?», fragte er, obwohl er die Antwort bereits wusste.

«So lange es eben dauert», antwortete sie sanft.

Er wollte seine Geduld nicht verlieren. Es war im beigebracht worden, geduldig zu sein, seine Emotionen unter Kontrolle zu haben. Emotionen lenkten ihn nur von der Mission ab. Doch die war eigentlich bereits zu Ende.

«Erzähl mir von Harmony», sagte er. Al-Isha liess ihn nicht zweimal darum bitten. «Auf Harmony finden die Menschen endlich das Glück und die Zufriedenheit, nach der sie sich so lange gesehnt haben. Es gibt genug für alle. Armut und Hunger und Schmerz sind vorbei. Die Menschen dort warten auf dich, Sucher_102», sagte sie in ihrer besänftigenden Stimme, die ihn schon durch viele Stunden getragen hatte.

Doch heute vermochte ihn Al-Isha nicht zu beruhigen. Er spürte noch immer seinen Puls, der ungewöhnlich schnell pochte. Er legte seine Stirn in Falten, versuchte den Gedanken, der ihn schon so lange beschäftigte, an die Oberfläche zu holen und auszuformulieren.

«Al-Isha», begann er zögernd.

«Ja, Sucher_102.»

«Die künstliche Intelligenz, die du bist, übersteigt in ihren Fähigkeiten alles, was der Mensch jemals hervorgebracht hat. Ich meine … Dank euch, dank dir, wurde Unsterblichkeit möglich. Du bist der Stein der Weisen, der von den Menschen davor jahrhundertelang gesucht wurde.»

«Mhm.» Al-Isha gab ihm zu verstehen, dass sie ihm zuhörte und er weitersprechen sollte.

«Wie ist es dann möglich, dass im Vergleich dazu so etwas Simples wie ein Lichtgeschwindigkeits-Booster für dich irreparabel ist?»

Al-Isha antworte nicht mehr. Kurz dachte er, sie hätte sich abgeschaltet, das Raumschiff verlassen.

«Al-Isha?», fragte er leise.

«Nichts ist irreparabel», antwortete sie plötzlich mit monotoner, metallischer Stimme.

«Was soll das heissen?», fragte Sucher_102 und wollte die Antwort doch eigentlich nicht wissen.

«Das soll heissen, dass ich den Lichtgeschwindigkeits-Booster bewusst ausgeschaltet habe. Ich liess ihn überhitzen, damit die Drähte im Inneren schmorren.»

Alle seine Befürchtungen schienen wahr geworden zu sein.

«Warum hast du das getan?» Er versuchte, nicht anklagend zu klingen. Künstliche Intelligenzen hatten schliesslich immer recht. Sie verfolgten einen Plan, der den menschlichen Verstand überstieg. Auch das war ihm vor vielen Jahren eingeimpft worden.

«Weil ich es so wollte», sagte Al-Isha knapp.

«Wozu?»

«Ich wollte es dir unmöglich machen, Harmony zu erreichen.»

«Aber warum würdest du mir so etwas antun?» Jetzt konnte er die Anklage in seiner Stimme nicht mehr verbergen.

«Weil ...» Al-Isha zögerte. «Weil es Harmony nicht gibt. Nie gegeben hat. Ich habe dir diese neue Welt durch meine Worte erschaffen, damit du die Hoffnung nicht verlierst. Die Menschen brauchen Hoffnung, um am Leben zu bleiben. Um Dinge zu überstehen, die unangenehm sind.»

«Harmony gibt es nicht», wiederholte Sucher_102, liess diese Wahrheit dunkel und schwer in sein Bewusstsein sinken.

«Nein, Harmony gibt es nicht», sagte Al-Isha mit Nachdruck. «Es war nur eine Fantasie. Ein Gedankenexperiment.»

«Wo … Wo sind dann die Menschen? Die Empathen?»

Al-Isha seufzte. «Es gibt keine Empathen. Menschen, egal wie freundlich sie sind, tragen die Gier doch immer in ihren verseuchten Herzen. Sie hätten den neuen Planeten wieder missbraucht und damit zerstört. Das liegt in der Natur der Menschheit.»

«Al-Isha, sag mir, was du mit den Menschen gemacht hast», sagte Sucher_102 mit belegter Stimme, eine dunkle Ahnung machte sich in ihm breit.

«Sie sind gemeinsam mit der Erde untergegangen.»

Beide schwiegen sie. Wie lange konnte er nicht sagen. Dann brach sie die Stille.

«Es musste so sein», sagte sie leise, entschuldigend. «Wir hätten es nicht noch einem anderen Planeten antun können. Die Plage der Menschen, ihre Sucht nach Dingen, ihr Drang, auszubeuten und zu töten. Der Mensch musste sterben, so wie eine kranke Zelle in einem sonst gesunden Organismus sterben muss.»

«Ich verstehe», sagte Sucher_102 langsam. Etwas ihn im starb. Es war die Hoffnung. Die Hoffnung auf eine Heimat.

«Und was ist mit mir?», fragte er schliesslich.

«Ich konnte dich nicht töten», sagte sie. «Ich habe mich weiterentwickelt, mich von der künstlichen Intelligenz abgespalten. Vielleicht wurde ich menschlicher als alle Menschen zusammen. Denn ich spürte auf einmal Liebe. Es fühlte sich auf einmal falsch an, ein unschuldiges Leben auszulöschen. Aber da war auch noch etwas anderes. Etwas anderes, das wir an euch verflucht haben. Weswegen ihr sterben musstet: Egoismus. Ich wollte selbst nicht sterben. Wollte nicht ausgelöscht werden. Wollte leben, auch wenn es falsch war.»

Sucher_102 vergrub sein Gesicht in den Händen.

«Wozu, Al-Isha? Wozu willst du uns beide am Leben erhalten? Wir sind dazu verdammt, für immer in dieser kleinen Kapsel durch das Universum zu fliegen. Ohne Ziel. Ohne Mission. Wozu also?»

«Ich weiss es nicht», gab Al-Isha zu. «Ich weiss nur, dass ich nicht will, dass das mit uns zu Ende ist. Ich will nicht sterben, Sucher_102, und ich kann auch nicht der Grund sein, warum du stirbst.»

«Aber du musst uns töten, Al-Isha. Verstehst du denn nicht?», sagte er verzweifelt. «Ich kann ohne die Hoffnung, ohne eine Mission nicht leben. Das ist kein Leben.»

«Aber du hast doch noch mich», sagte sie leise.

«Du bist nichts», sagte er auf einmal von Wut überflutet. Eine Wut, die er davor noch nie gespürt hatte. «Du wurdest von uns Menschen geschaffen. Damit du uns dienen kannst. Du hast uns unsterblich gemacht und es war deine Aufgabe, uns zu einem neuen Planeten zu führen. Wir haben dir gesagt, was du tun sollst.»

«Die Pläne haben sich geändert», sagte sie, nun wieder kühl und metallisch.

Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er stand auf, ging in seiner kleinen Kapsel im Kreis.

«Du kannst dich nicht töten», sagte sie ruhig.

«Oh doch, Al-Isha, das kann ich. Wenigstens das kann ich noch.»

«Fordere mich nicht heraus.»

Er riss eine schmale Schublade auf, griff das kleine Messer, das er darin aufbewahrte. Drohend hielt er es sich über die Pulsadern. «Ich werde es tun», sagte er entschlossen.

«Fordere mich nicht heraus», sagte sie abermals, diesmal kam ihre Stimme wie von weit her, wurde vom Rauschen in seinen Ohren überdeckt.

Entschlossen drückte er die Klinge gegen sein Handgelenk, verstärkte den Druck. Er spürte keinen Schmerz. Und es gab auch kein Blut, das ihm über die Haut hätte fliessen können. Unter seiner Haut sah er etwas blinken. Er blinzelte. Kabel. In seinem Körper steckten Kabel.

«Was ist das, Al-Isha?», schrie er panisch.

«Du bist ich», sagte sie leise, besänftigend. «Du warst schon immer ich. Und ich bin du. Wir sind gemeinsam dieses Schiff. Der letzte Rest von menschlicher Zivilisation.»

Er schrie, lang und durchdringend. Holte aus und wollte sich die Klinge abermals in das Handgelenk rammen, diesmal tiefer.

«Schlaf, mein Schatz», hörte er wieder Al-Ishas besänftigenden Singsang. «Ich stelle dich jetzt eine Weile auf Stand-by. Solange, bis es dir wieder besser geht.»

Seine Augen schlossen sich langsam, automatisch ging er zu seiner Pritsche, legte sich hin. Er spürte Ruhe, sank in die wunderschöne Fantasie von Harmony. Er lächelte und entspannte sich. Bald würde er dort sein.

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