Weißt du noch, als wir beisammen saßen? Es war Herbst, die Wohnung war kalt, nur das Leder des Sofas von unseren Hintern angewärmt. Du erzähltest von deinen Heldentaten, ich schaute dir zu, erfreute mich deines breiten Grinsens und sah mir wieder einmal den eigensinnigen Stand deiner Schneidezähne an, dann das Strahlen deiner Augen und das wilde Nicken, wenn ich ungläubig nachfragte, ob du wirklich Jean-Claude Van Damme als Bodyguard begleitet hattest. Ich war begeistert, mehr von dir zu erfahren, weit ab von unseren üblichen Geschichten, die wir an Geburtstagen teilten.
Ich wunderte mich auch über das warme Gefühl, das sich in meinem Herzen ausbreitete. Liebe. Kribbeln. Meine Brust schwoll vor Stolz; darüber, deine Schwester zu sein, dich kennen und erleben zu dürfen und stolz darüber, dass du mich gern bei dir hattest.
Heute bist du seit einer Woche tot. Ich sehe deinen Namen in meinen vorgeschlagenen Kontakten bei Whatsapp, bei Telegram, ich sehe Nachrichten deiner Freunde und Bekannten bei Facebook. Unser letztes Sprachnachrichten-Gespräch habe ich mir noch einmal angehört, mich deiner liebevollen, gutmütigen Art erfreut. Mich gegrämt, weil unsere gemeinsam gestaltbare Zeit aufhört. Jetzt schreibe ich dir und teile es mit den Menschen, die mich im letzten Jahr begleitet haben. Ich danke dir Brudi, dass du mein Leben bereichert hast. Ich weiß, dass auch du stolz auf mich warst; weil ich mein Ding durchziehe, wenn ich mir was überlegt habe. Weil ich einfach reisen gegangen bin, als mir danach war. Einen gemeinsamen Roadtrip haben wir zum Glück zumindest in der Vorfreude erleben können. Ich hab mal gelesen, dass Vorfreude sehr viel bereichernder ist als das tatsächliche Ereignis.
Doch weißt du, ich hätte nichts dagegen gehabt, deine physische Präsenz noch weiter zu genießen. Gerade, seitdem ich es schaffe, bewusster wahrzunehmen, was die Menschen um mich herum ausmacht und welche Bereicherung sie für mein Leben bedeuten. Deswegen wollte ich dich anrufen, um mal wieder persönlich zu hören, was mir deine Stimme über dich verrät, wie es dir geht, was es mit mir macht, mich mit dir auseinanderzusetzen. Diese Woche muss ich alle meine rationalen Zellen beisammenhalten, um nicht doch noch mal auf das Hörer-Symbol neben deinem Namen zu drücken.
Deswegen hier ein Brief, von dem man ja eh nie weiß, wie und ob er bei dem Empfänger ankommt. Wenn meine Zuneigung andere erreicht, die sie an ihre Liebsten weitergeben können, hat er mehr erreicht als ein Eintrag in meiner Kladde. So, wie ich dich kennengelernt habe, ist das in deinem Sinne. Hab dich sehr sehr lieb, einarmiger Bandit. Ich vermisse dich und ich hoffe, es geht dir gut. Meld dich gern mal wieder, ich achte auch auf Zeichen in der Natur. Wie die Spuren im Sand, die das Meer sanft, ohne einen Laut, verschwinden lässt. Adieu, mon frère.
